Wimbledon – das Turnier der Deutschen
90er Jahre: Attacken aus der zweiten Reihe
Michael Stich
(Einzeltitel 1991, Doppeltitel 1992)
Es fehlte nicht viel und die Riesenüberraschung hätte es nie gegeben. 1991, Wimbledon-Achtelfinale, Michael Stich gegen Alexander Volkov: 3:5 im fünften Satz lag der Deutsche aus Elmshorn hinten, sein russischer Gegner servierte zum Matchgewinn. Dann, bei 30:30, kam es zum Wendepunkt: Stich, weit aus dem Feld getrieben, spielte einen Passierball, der normalerweise im Aus gelandet wäre. Aber der Ball traf die Netzkante, veränderte seine Flugbahn – und klatschte auf die Linie. Wenig später hatte Stich das Match gedreht. „Er war der bessere Spieler, aber ich hatte das nötige Glück“, gestand Stich.
Der Rest ist deutsche Sportgeschichte: Stich schlug erst Jim Courier, dann Stefan Edberg und zog ins erste deutsche Herren-Wimbledonfinale gegen Boris Becker ein, das er in drei Sätzen gewann. Diesen Stich hatte niemand auf der Rechnung. Vor Turnierbeginn lag seine Wettquote bei 1:80 und sie wäre noch „schlechter“ ausgefallen, wenn er nicht zuvor bei den French Open das Halbfinale erreicht hätte, wodurch er erstmals zu den Top Ten der Welt gehörte.
„Erst kommen Edberg, Becker und Lendl und dann eine ganze Weile gar nichts. Das ist eine andere Liga. Auf Platz vier würde ich Cash, Sampras und Ivanisevic sehen“, hatte Boris Becker bei seiner ersten Pressekonferenz getönt. Von Stich kein Wort. Der konterte selbstbewusst: „Was Boris sagt, interessiert mich nicht.“ Es war ein erster Vorgeschmack auf die innerdeutsche Rivalität zwischen Becker und Stich.
Sie sollte noch jahrelang, bis weit über das Karriereende hinaus, anhalten. Stich hatte 1991 seinen Coup gelandet, weitere Grand Slam-Titel kamen nicht hinzu. Zumindest nicht im Einzel. 1992 gewann er noch mit John McEnroe in einem historischen Finale die Doppelkonkurrenz von Wimbledon: 19:17 im fünften Satz gegen Grabb/Reneberg. „Wimbledon ist einfach das Größte“, sagt Stich heute noch.
Christian Saceanu
(Einzelachtelfinale 1992)
Als Schützling von Erfolgscoach Günther Bosch, der Boris Becker zu seinen ersten beiden Titeln in Wimbledon geführt hatte, waren die Erwartungen naturgemäß sehr hoch. Aber Christian Saceanu, wie Bosch gebürtiger Rumäne aus Siebenbürgen, war kein zweiter Boris Becker, auch wenn dieser Vergleich am Anfang ihrer Zusammenarbeit durch die Presse geisterte. Der Bundesligaspieler aus Neuss blieb ein unbekannter Mitläufer auf der Tour. Daran änderte auch der fast schon berühmte Name seines Trainers nichts.
Allerdings: Es gab gewisse Parallelen zu Becker: Stattliche Körpergröße (1,90m), krachender Aufschlag und ein geborener Angreifer, der das Spiel auf Rasen liebte. Saceanu holte in seiner Karriere zwei Titel – beide auf Gras. Insofern war es nicht purer Zufall, dass Sacenau 1992 in Wimbledon seinen größten Erfolg feierte, als er das Achtelfinale erreichte. Der Zeitpunkt war allerdings sehr überraschend, denn Saceanu hatte die beste Phase seiner Laufbahn schon hinter sich. Er musste als 176. der Weltrangliste erst durch die mörderische Qualifikation von Wimbledon, die im Vorort Roehampton ausgespielt wird und über die Günther Bosch einmal sagte: „Irgendjemand zieht auf einer großen Wiese viele weiße Striche und spannt ein paar Netze.“
Saceanu überstand diese Herausforderung und schlug dann im Hauptfeld die wesentlich besser platzierten Gegner Cedric Pioline und Jakob Hlasek. Erst gegen den späteren Turniersieger Andre Agassi kam das Aus – 6:7, 1:6, 6:7. Auf Youtube gibt es von dem Match einen sehenswerten Mitschnitt.
Alexander Mronz
(Einzelachtelfinale 1995)
Den Namen Alexander Mronz kennt jeder Tennisfan, der seinen Lieblingssport auch schon in den 90er Jahren intensiv verfolgte. Allerdings liegt das weniger am – mit Verlaub! – spielerischen Können des Kölners, sondern an zwei anderen Namen aus der Tennisszene: Steffi Graf und Jeff Tarango.
Graf stellte ihn 1989 als ersten offiziellen Freund vor, was einen regelrechten Medienhype nach sich zog. „Es gab Verfolgungsjagden mit Journalisten und wenn wir über die Straße gingen, trafen uns wahnsinnige Blitzlichtgewitter“, erzählte er einmal. Jeff Tarango schließlich, auf den Mronz 1995 in der dritten Runde von Wimbledon traf, ging Anfang des zweiten Satzes einfach vom Platz, weil er sich mit Schiedsrichter Bruno Rebeuh wegen strittiger Entscheidungen angelegt hatte. „Sie sind der korrupteste Mensch im Tennis-Geschäft“, pöbelte Tarango.
Später ohrfeigte Tarangos Frau Benedicte den Schiedsrichter sogar noch. Mronz hatte plötzlich das Achtelfinale erreicht – es war sein mit Abstand größter Erfolg. Er durfte gegen den Weltranglisten-Ersten Andre Agassi auf dem Centre Court spielen und verlor 3:6, 3:6, 3:6. „Es war das emotionalste Erlebnis überhaupt für mich“, erzählte Mronz einmal im tennis MAGAZIN-Interview. Über den Abgang von Tarango ärgert sich Mronz noch heute: „Mein größter Erfolg wird immer mit der Disqualifikation eines anderen Profis in Verbindung gebracht.“ Mronz war lange Geschäftsführer beim Fußballclub Alemannia Aachen. Mittlerweile leitet er den ASV Köln, einen Sportverein mit mehr als 4.500 Mitgliedern.
Alex Radulescu
(Einzelviertelfinale 1996)
Es war eines dieser Dramen in Wimbledon, das man als Zeitzeuge niemals vergessen wird. Zweiter Turnier-Donnerstag 1996, Court No. 1: Alex Radulescu, Deutscher mit rumänischen Wurzeln, 100. der Weltrangliste, hat zwei Matchbälle im Viertelfinale. 6:5 liegt er im vierten Satz vorne, Gegner Malivai Washington serviert. Aber Radulescu nutzt keine der beiden Chancen. Wenig später, fünfter Satz, 4:4. Radulescu revidiert eine Schiedsrichterentscheidung zu seinen Ungunsten. Dann ist das Match gelaufen, der bis dahin unbekannte Profi vom Düsseldorfer Rochusclub verliert 7:6, 6:7, 7:5, 6:7, 4:6 – sein Traumlauf ist zu Ende.
Washington, der sogar ins Finale einzog, sagte nach dem Match: „Das war die größte Geste von Fairness, die ich jemals bei einem Profisportler erlebt habe.“ Radulescu erhielt später von der Olympischen Gesellschaft die Fair Play-Plakette, immerhin. „Natürlich denke ich manchmal daran, was geschehen wäre, wenn ich einen der Matchbälle verwandelt hätte“, gestand Radulescu in einem Interview mit tennis MAGAZIN 2013.
Andererseits: Radulescu hätte 1996 auch früh ausscheiden können. Gegen Arnaud Boetsch in der ersten Runde lag er im fünften Satz schon 1:4 und 0:40 hinten. Gegen Stefano Pescosolido wehrte er in der zweiten Runde vier Matchbälle ab. Und außerdem: Radulescu rutschte damals nur ins Hauptfeld, weil der Spanier Sergi Bruguera abgesagt hatte. Er hatte also auch viel Glück, um das beste Ergebnis seiner Laufbahn zu erzielen. Dem Tennis ist Radulescu nach wie vor verbunden. Er arbeitet heute als Trainer im Amateur- und Leistungsbereich in München.
Nicolas Kiefer
(Einzelviertelfinale 1997)
Was für ein Turnier! 1997 standen in Wimbledon erstmals bei einem Grand Slam-Turnier drei deutsche Herren im Viertelfinale: Boris Becker, Michael Stich und Nicolas Kiefer. „Stich brillant, Becker grandios, Kiefer sensationell“, textete die Deutsche Presse Agentur. Doch damit nicht genug: Nachdem Becker im Viertelfinale gegen Sampras rausflog, erklärte er seinen Rücktritt vom großen Turniertennis (woran er sich nicht hielt und erst 1999 endgültig abdankte). Wenig später, nach der Halbfinalniederlage gegen Pioline, sagte auch Michael Stich „Goodbye“ – und kehrte tatsächlich nie mehr zurück.
Die beiden „Oldies“ überließen die Bühne quasi dem deutschen Nachwuchs: Nicolas Kiefer. Der war damals 19 Jahre jung, hatte gerade Abi gemacht, war auf Platz 98 im Ranking notiert und stürmte bei seinem zweiten Grand Slam-Turnier bis ins Viertelfinale. Natürlich weckte das Erwartungen. Kiefer erfüllte sie nur zum Teil. Was Wimbledon angeht, war er nie wieder so gut wie bei seiner Premiere. Nach 1997 schlug er noch elfmal an der Church Road auf, 2001 erreichte er noch einmal das Achtelfinale. Gemessen an dem, was 1997 los war, hatte man von ihm mehr erwartet.
Kiefer schlug, mit Grunge-Bärtchen und jugendlicher Unbekümmertheit, Andrei Medvedev und im Achtelfinale den an drei gesetzten Yefgeny Kafelnikov. Die englische Presse verglich ihn gleich mit Andre Agassi, weil er so respektlos die großen Namen weghaute. Kiefer fand das ok, merkte aber an, dass sein Aufschlag besser sei als der des Amerikaners. Im Viertelfinale scheiterte er dann am australischen Doppelspezialisten Todd Woodbridge 6:7, 6:2, 0:6, 4:6. Übrigens: Sein letztes Profimatch bestritt Kiefer 2010 in, genau, Wimbledon. Nach dem Erstrundenaus gegen David Ferrer beendete er seine Karriere.